Pipilotti Rist: I’m Not The Girl Who Misses Much

HMKV Video des Monats

Videostill aus Pipilotti Rist, I’m Not The Girl Who Misses Much, 1986, SD Pal in 4:3, 07:45 Min., Farbe, Ton. Courtesy of the artist, Hauser & Wirth and Luhring Augustinet

- ausgewählt von Anne Hilde Neset, im Kontext der Ausstellung Holding Pattern -

In diesem Video aus dem Jahr 1986 singt, krächzt und jammert Pipilotti Rist „I’m Not The Girl Who Misses Much“ – eine Zeile aus dem Beatles-Song Happiness is a Warm Gun. Die Originalzeile beginnt mit „She“: „She’s Not A Girl Who Misses Much.“ Hier ist aus „sie“ also „ich“ geworden – und anstelle von John Lennons lakonischem Hinweis auf ein wildes Mädchen, das nichts verpasst, hören wir ein Geständnis: Ich bin dieses Mädchen. Man könnte also einen selbstbewussten Auftritt erwarten. Nichts der Art: Die mantraartige Wiederholung derselben Zeile, die ekstatischen Tanzbewegungen (mal beschleunigt, mal verlangsamt) und die ständige Unterbrechung des Bildes erwecken den Eindruck einer verzweifelten, überdrehten Performance. Jede Erwartung an eine makellose Selbstdarstellung vor der Kamera wird gnadenlos unterlaufen. Das während ihres Studiums in Basel entstandene „I’m Not The Girl Who Misses Much“ gehört zu den am häufigsten gezeigten und meistdiskutierten Videos der Künstlerin. Es wurde als Kommentar auf die ambivalente Rolle der Frau im Musikgeschäft oder in den Medien insgesamt interpretiert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wird von Frauen immer noch verlangt, dass sie sich in einer sexualisierten Weise präsentieren. Die Schlierenhaftigkeit, die Unschärfe und die Verzerrung dieses Videos verkörpern dagegen die Weigerung der Künstlerin, ein konsumierbares Bild von sich als Frau zu liefern. Stattdessen werden wir mit einem Zusammenbruch vor der Kamera konfrontiert, bei dem die Frau in mehr als einer Hinsicht auseinanderfällt. Wie soll es für Frauen möglich sein, sich selbstbewusst zu präsentieren, wenn sich die meisten Vorbilder dem männlichen Blick unterworfen haben? Wie können Frauen das Vergnügen, zu schauen und angeschaut zu werden, für sich selbst neu bewerten – und zwar so, dass sich unterdrückerische und diskriminierende Muster nicht wiederholen?

„I’m Not The Girl Who Misses Much“ schlägt einen Ausweg aus dem Dilemma vor: Nur durch aktive, bewusste und kreative Manipulation der systemimmanenten Fehlermöglichkeite – in diesem Fall Verzerrung in Kombination mit visueller Über- und Unterreizung - kann es Frauen gelingen, ihr eigenes Bild zu bestimmen.

Text für Audioguide: «PIPILOTTI RIST – YOUR SALIVA IS MY DIVING SUIT IN THE OCEAN OF PAIN», Kunsthaus Zürich, 26 Februar, 2016 bis 8 Mai 2016

Autoren: Mirjam Varadinis (MV), Änne Söll (ÄS), Katharina Ammann (KA), Eveline Schüep (ES) und Andrea Fischer-Schulthess

 

Pipilotti Rist

Pipilotti Rist, eine Pionierin der räumlichen Videokunst, wurde 1962 in Grabs im Schweizer Rheintal an der österreichischen Grenze geboren und ist seit Mitte der 1980er Jahre eine zentrale Figur in der internationalen Kunstszene. Sie verblüffte die Kunstwelt mit der energiegeladenen, exorzistischen Aussage ihrer inzwischen berühmten Einkanal-Videos wie „I'm Not The Girl Who Misses Much“ (1986) und „Pickelporno“ (1992). Ihr künstlerisches Werk hat sich mit den technischen Fortschritten und der spielerischen Erkundung der neuen Möglichkeiten weiterentwickelt, so dass sie Aufnahmen vorschlägt, die einem kollektiven Gehirn ähneln. Durch großflächige Videoprojektionen und digitale Manipulationen hat sie immersive Installationen entwickelt, die aus langsamen, streichelnden Schauern lebhafter Farbtöne Leben schöpfen, wie ihre Werke „Sip My Ocean“ (1996) oder „Worry Will Vanish“ (2014).

Für Rist ist das Zeigen von Verletzlichkeit ein Zeichen von Stärke, aus dem sie ihre Inspiration bezieht. Mit ihren neugierigen und aufwendigen Aufnahmen der Natur (zu der der Mensch als Tier gehört) und ihrer investigativen Bearbeitung versucht Rist, die privilegierte Position zu rechtfertigen, mit der wir geboren werden, einfach weil wir Menschen sind.

01.–31. Mai 2025

Pipilotti Rist

I’m Not The Girl Who Misses Much

1986, SD Pal in 4:3, 07:45 Min., Farbe, Ton. Courtesy of the artist, Hauser & Wirth and Luhring Augustine

In der Serie „HMKV Video des Monats“ stellt der HMKV im monatlichen Wechsel aktuelle Videoarbeiten internationaler Künstler*innen vor.